essays

Journalistin

Lübecker Nachrichten, Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten, NDR Kultur, heute show, Rheinische Post


Drei Fragen an Igor Levit 

(Stuttgarter Zeitung)


Dieter Schnabels "Utopien" in der Hospitalkirche 

(Stuttgarter Zeitung)



Das Ich in der Musik

 Es ist 8:30 Uhr an einem gewöhnlichen Dienstagmorgen. Auf dem Rond-Point Louise in Brüssel herrscht geschäftiges Treiben. Alles geht seinen gewohnten Gang, Berufstätige hasten zur Arbeit, Studenten fahren gähnend zur Universität. Das Wetter ist grau, vom Himmel nieselt dunstiger Regen. Ist alles wie immer? Nicht ganz.

Aus der Unterführung kommt ein junger Mann die Rolltreppe hochgefahren. Er ist groß, schlank und definitiv betrunken. Er murmelt etwas vor sich hin, torkelt über eine Absperrung auf die stark befahrene Straße und schreit: „Formidable!“. Es geht ihm augenscheinlich nicht gut.

Die Passanten reagieren unterschiedlich auf den jungen Mann. Manche machen einen großen Bogen um ihn, eine Frau zieht ihn von den Gleisen, als die Straßenbahn kommt. Es dauert nicht lange, bis die ersten Beobachter ihre Smartphones zücken, um ihn zu filmen, denn dieser Betrunkene ist nicht Irgendjemand. Es ist der belgische Electro- und House-Superstar Stromae.

*

Mark und Amy laufen durch NewYork. Sie kennen einander noch nicht besonders lang, seit etwa einer Woche arbeiten sie gemeinsam an neuen Songs. Amy erzählt Mark gerade von einer Zeit, in der es ihr so schlecht ging, dass ihr Vater ihr vorschlug, es vielleicht mit einem Entzug zu versuchen. „He tried to make me go to rehab and I was like „Pfft, no no no“.“, sagt sie. „Wir müssen sofort zurück ins Studio“, antwortet Mark. Der Rest ist Geschichte.

Der Song, der Amy Winehouse 2008 drei Grammy Awards einbringt und ihr zu internationalem Durchbruch verhilft, handelt von einem Thema, das viele Songschreiber sonst meiden wie die Pest. Es geht darin um ihr Privatleben, um ihre verletzlichen und kaputten Seiten. „Rehab“ erzählt eine Geschichte, die sich tatsächlich so zugetragen hat. Hat sie das?

*

Einige Polizisten nähern sich dem belgischen Musiker, sie haben ihn erkannt. „War wohl eine harte Nacht?“, fragen sie ihn. Er nickt. „Ich bin ein großer Fan“, gesteht einer der Männer und bietet Stromae an, ihn nach Hause zu fahren. Dieser schüttelt den Kopf und bedankt sich. Dann macht er damit weiter, den ihn umgebenden Menschen sein betrunkenes Leid ins Gesicht zu schreien: „Ich bin Single seit gestern, und ich kann kein Baby haben...“

Aber spricht Stromae wirklich von sich?

Die Szene, die sich am 21. Mai 2013 auf dem Rond-Point Louise zugetragen hat, ist ein Stunt für Stromaes Musikvideo zu seiner Single „Formidable“. Am Ende des Videos sieht man ihn in die Kamera lachen und demonstrativ Luftsprünge machen. Es ist trotzdem zu erkennen, dass der Dreh und die Reaktionen der Passanten ihn mitgenommen haben. Hat er nun seine eigene Geschichte erzählt oder die eines anderen?

*

„Ich habe meinen Vater gefragt, ob er glaubt, dass ich einen Entzug machen sollte. Er meinte, ich solle es mal ausprobieren. Also habe ich es gemacht, ich bin für 15 Minuten rein gegangen, habe „Hallo“ gesagt und erklärt, dass ich trinke, weil ich verliebt bin und meine Beziehung vergeigt habe. Dann bin ich gegangen.“

Zum Hintergrund von Amy Winehouse‘ „Rehab“ gibt es zahlreiche Zeitungsartikel, Blogeinträge und Theorien. Fans, Journalisten und Verschwörungstheoretiker wollen zu so einem pikanten Thema alles ganz genau wissen. Was geschah vor, während und nach „Rehab“? Amy Winehouse hat aus einem seelischen Tief einen Nummer eins Hit gemacht. Das Problem ist, dass es nicht um irgendeine Seele ging, sondern um ihre eigene. Auch, wenn sie in „Rehab“ über sich selbst lacht und der vom „Rolling Stone“ zu den „500 größten Songs aller Zeiten“ gezählt wird: Wenn sich die Augen der Öffentlichkeit einmal auf jemanden fixiert haben, lassen sie ihn so schnell nicht wieder los.

*

Paul van Haver, wie Stromae mit bürgerlichem Namen heißt, ist ohne seinen ruandischen Vater bei seiner Mutter in Belgien aufgewachsen. Es gibt kaum einen Journalisten, der diesen Teil seiner Biographie nicht anspricht, wenn es um einen weiteren Hit in Stromaes Diskographie geht: „Papaoutai“, „Papa, wo bist du“ handelt von einem Kind, das nach seinem Vater fragt. Der Blick auf Stromaes Vergangenheit liegt auf der Hand, doch wer den Songtext etwas genauer betrachtet, wird bemerken, dass die Problemstellung des Songs sich ein wenig davon unterscheidet. In „Papaoutai“ geht es nicht um einen Vater, der verschwunden oder verstorben ist, sondern um einen, der so viel arbeitet, dass er sein Kind kaum sieht.

„Er geht sehr oft zum Arbeiten. Mama sagt, arbeiten ist gut. Besser als keine Arbeit haben.“

Ein Songtext muss keiner Biographie entsprechen, um authentisch zu sein. Ein Film muss nicht auf wahren Gegebenheiten beruhen, um zu berühren. Ein Buch muss keine wahre Geschichte erzählen, um lehrreich zu sein. Die Fähigkeit eines Künstlers, ein Alter Ego zu kreieren, ist oft ein Zeichen für Empathie und besondere Kreativität. Stromaes Songs handeln von Unfruchtbarkeit, Burn Out und Krebs, vom typisch weiblich und typisch männlich sein. Es sind Dinge, die er wahrscheinlich nicht alle selbst erfahren hat. Aber seine Fähigkeit, sich dazu auszudrücken ist bewundernswert und verschafft vielen Menschen, in die er sich mithilfe seiner Texte hineinversetzen kann, echte Erleichterung.

Wenn Stromae „Formidable“ in Studios oder bei Liveshows performt, stellt er sich stets betrunken. Es ist faszinierend, ihn bei seiner blitzschnellen Transformation zu beobachten.

*

Amy Winehouse stellt sich nicht betrunken, sie ist es wirklich.

„Hello, Athens“, begrüßt sie ihre Fans in Belgrad. Ihr Management verbietet ihr, auf der Tournee zu trinken. Sie wird regelmäßig für ihre unnüchternen Darbietungen ausgebuht.

Dabei ist sie voll und ganz authentisch. Jeder ihrer Fans muss wissen, wie es um sie und ihre Beziehung zum Alkohol steht.

Aber sie kann nicht mehr abliefern. Dass sie ehrlich war, hilft ihr nicht dabei, das Verständnis ihres Publikums zu gewinnen.

*

Es gibt unzählige Beispiele für Musiker, die mit persönlichen Geschichten berühmt geworden sind.

Adele widmete ihrem Exfreund ein ganzes Album, Robert Schumann seiner Braut Clara die „Myrthen“. Es ist nur natürlich, dass uns die Gründe, die zur Entstehung solcher Musik geführt haben, interessieren. Vielleicht fragen wir uns insgeheim, was wir erleben müssten, um die gleiche kreative Kraft zu entfesseln. Doch die Macht des Alter Egos ist nicht zu unterschätzen. Es muss nicht immer eine offensichtlich aufgeblasene Kunstfigur sein, wie viele Rapper sie benutzen, um Reime über ein Thema zu produzieren, das ihnen nicht allzu nahe geht (meistens ist das Geld). Ein Alter Ego kann auch ein feinfühlig detailliert gezeichneter Charakter sein – wie die Figuren von Stromae.

 

 

Iga Osowska/Theresa Szorek

 


Generation Me

 Manchmal lese ich Bücher wie "Soloalbum" von Benjamin Stuckrad-Barre. Darin geht es um einen Ich-Erzähler, der von seiner Freundin verlassen wird und auf schlechte Parties geht, um sie zu vergessen. Aber eigentlich habe ich das Gefühl, es geht um Benjamin Stuckrad-Barre. Die bissigen Beschreibungen gescheiterter Journalisten, die der Erzähler in verrauchten Hausfluren kennen lernt, fühlen sich zu echt und zu frustriert an, um von fiktiven Charakteren zu handeln.

 

Insgesamt ist die ganze Erzählung sehr langweilig. Sie ist langweilig, weil die Anekdoten sich lesen wie Tagebucheinträge. Der Erzähler und der Autor weisen dutzende biographische Parallelen auf.

 

Spricht jemand einem Leser aus der Seele, wenn er von seiner eigenen Seele spricht?

 

 Wenn ich ein Buch lese, ein Stück höre oder einen Film sehe, möchte ich, dass eine Idee mich erreicht, nicht ein privater Mensch.

 

Dabei liebe ich Klatschgeschichten über die Liebesfiaskos und persönlichen Skandale von Komponisten, Malern und Schriftstellern. Warum nervt mich dieses "Soloalbum" dann so?

 

Ich glaube, dass der wichtigste Aspekt an Kunst ist, dass das Ich des Künstlers nur dann von Belang ist, wenn es grundlegende Ideen, Konzepte und das Lebenswerk des Schaffenden beeinflusst.

 

Dass das bei Stuckrad-Barre nicht der Fall ist, sieht man daran, dass er sich eine hübsche Form für seinen Debütroman ausgedacht hat (nämlich das Buch wie eine Vinylplatte in Seite A und Seite B aufzuteilen und die Kapitel nach Songs von Oasis zu benennen), die leider nichts mit den Erlebnissen und Gefühlsregungen des Protagonisten zu tun hat. Seine Idee, sein Konzept wird von den Ergüssen seines Egos nicht beeinflusst.

Was geht es mich also an, was für Arten von Mensch der Erzähler nicht ausstehen kann?

 

Aber was geht es dich schon an, was für Arten von Autor ich nicht ausstehen kann?

 

 

 

[erschienen in Spektrum #31]

I TACET II TACET III TACET

 So lauten die Spielanweisungen für John Cages berühmtes "4'33", das vielleicht aufsehenerregendste Werk der Neuen Musik. Vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden lang sitzen die Musikerinnen und Musiker in beliebiger Besetzung auf

der Bühne und spielen ihre Instrumente nicht. Was dem Publikum als gut vierein-

halb Minuten der Stille erscheinen mag, ist in Wahrheit mehr als das: Klänge, die

vorher nur zur Umgebung gehörten, werden nun selbst zur Musik.

Cage besuchte in den 1940er-Jahren den schalltoten Raum der Universität

Harvard. Doch statt der erwarteten völligen Stille hörte er zwei Klänge, einen

hohen und einen tiefen. Der zuständige Techniker erklärte ihm, dass der hohe

durch sein Nervensystem erzeugt würde und der tiefe durch seinen Blutkreislauf.

„Bis ich sterbe, wird es Klänge geben. Und sie werden meinen Tod überdauern.

Man braucht keine Angst um die Zukunft der Musik zu haben“, sagte Cage später selbst.

 

Die Pause muss nicht nur als Abwesenheit von Klang gesehen werden, sie kann auch Verschiebung der Aufmerksamkeit sein, ein Raum, in dem nicht nichts passiert, sondern einfach etwas anderes.

 

1897 veröffentlichte ein Humorist und Freund von Erik Satie namens Alphonse Allais sein "Album aprilo-avrilesque" ("Erster April-Album"), in welchem der Name Programm ist. Es finden sich darin sieben monochrome Malereien, wie zum Beispiel eine gänzlich weiße, die als "Erstkommunion eines anämischen Mädchens bei Schneegestöber" betitelt ist oder eine vollkommen rote, deren Überschrift "Rasende Kardinäle ernten Tomaten am Ufer des Roten Meeres" lautet. Ganz hinten aber, auf den letzten beiden Seiten, ist sein "Marche Funèbre Composée pour les Funérailles d'un Grand Homme Sourd" ("Trauermarsch für das Begräbnis eines tauben Mannes") abgedruckt. Der Notentext: 24 leere Takte, mit der Spielanweisung "Lento rigolando". Die Abwesenheit von Noten im Stück und das überspitzte Fordern des Vorstellungsvermögens der Betrachter seiner Bilder benutzte Allais, um sich über den hochtrabenden Impressionismus seiner Zeit lustig zu machen.

 

Ob nun revolutionäre Betrachtung der "Stille" oder humoristischer Umgang mit der Schaffenshöhe - fest steht, dass die Pause in der Musik eine enorme, wenn auch oft unterschätzte Wirkung auf den Hörer hat. Wo "nichts" passiert, passiert doch sehr viel, so wie das Schweigen im richtigen Moment bedeutungsvoller sein kann als das Wort. Eine Pause kann die Aufmerksamkeit des Publikums auf das visuelle Auftreten der Musiker lenken. Eine Pause kann Dinge hörbar machen, die vorher unhörbar waren. Eine Pause kann witzig sein oder zur Konzentration aufrufen.

Und sie kann ein Statement sein. Als 2014 durch einen Fehler im System aus Versehen eine Single namens "Track 3" von Taylor Swift veröffentlicht wurde, landete diese innerhalb kürzester Zeit auf Platz 1 der Kanadischen iTunes-Charts. Darauf zu hören waren acht Sekunden weißes Rauschen.

 

 

 

[erschienen in Spektrum #30]

Adriana Holszky

 2018 wird die Komponistin Adriana Hölszky 65 Jahre alt. Ein guter Grund, um über ihr bemerkenswertes Werk zu sprechen. Ein Interview mit Angelika Luz, Gesangsprofessorin und Leiterin des Studios für Stimmkunst und Neues Musiktheater, und Klaus Dreher, Professor für Schlagzeug und Percussionsensemble.

 

 

Theresa Szorek: Wie würden Sie die Musik von Adriana Hölszky beschreiben?

 

Angelika Luz: Ihre Initiation als Komponistin hat ja stattgefunden, als sie als Studentin aufs Land ging. In Osteuropa gab es offenbar eine sehr ungewöhnliche Art von Volksmusik, die teilweise naturreligiöse Aspekte hatte. Was sie beschreibt ist, dass die Leute singen,- der Gesang aber „schmutzige“ Elemente beinhaltet, dass es Übergänge gibt zwischen Singen und Sprechen und dass ein ungewöhnliches Instrumentarium benutzt wird.

 Es gibt in ihren Werken ganz oft die Kombination Stimme mit Schlagzeug oder Perkussionisten, die ihre Stimmen einsetzen. In ihrem letzten Stück „Roses of shadow“, das wir bei dem Portraitkonzert innerhalb des Festivals „Der Sommer in Stuttgart“ als konzertante Uraufführung zeigen möchten, hat sie diesen Aspekt ausgeweitet. Alle acht Instrumentalisten musizieren hier auch mit ihrer Stimme.

 

 

Szorek: Gibt es Aspekte an der Musik von Adriana Hölszky, von denen man sagen könnte, dass sie etwas spezifisch Neues in die Schlagzeugliteratur gebracht haben?

 

Klaus Dreher: Blechdosen, Spielzeuginstrumente, Außereuropäisch-Exotisches und unkonventionelle Spieltechniken gehörten schon vorher zum Repertoire der Neuen Musik. Aber mit diesem Material lotet Hölszky die vielen Stufen zwischen Ton und Geräusch auf ihre eigene Art und Weise aus. Sehr neu sind hier die Schichtungen der Partitur, klanglich und rhythmisch. Sie sucht das Außergewöhnliche im Alltäglichen - und findet dabei auch das Alltägliche im Außergewöhnichen.

 

 

 

Szorek: Haben Sie ein Lieblingsstück von Hölszky?

 

Dreher: Vampirabile ist ein tolles Stück - ein fulminantes Quintett für schlagzeugspielende Sängerinnen. Es gab eine Zeit, in der das mit Angelikas Studentinnen regelmäßig einstudiert wurde…

 

Luz: Wir haben davon mit Studentinnen sogar eine Aufnahme im Studio Bauer machen dürfen. Die Partituren sind wirklich minutiös, es wiederholt sich eigentlich nichts.

Mein „Leib- und Magenstück“ ist natürlich der "Monolog", das Stück, das sie als ihre erste gültige Komposition betrachtet.

Besonders interessant ist daran der immanent musiktheatralische Aspekt innerhalb des Musizierens. Das heißt, indem ich musiziere, tritt das Theater zutage. Da ist diese Frau, die mit der Zeitung agiert, die Zeitung liest, sie knüllt, und in dem Knüllen der Zeitung ergibt sich eine Analogie zu einem vokalen Geräusch. Dieses Spiel, das mit der Verwandtschaft und Kontrastierung von Klängen spielt, ist gekoppelt mit einem theatralischen Ansatz und dem Assoziationsfeld der Zeitung. Und dieser Ansatz des immanenten Musiktheaters zieht sich durch ihr gesamtes kompositorisches Schaffen.

 

 

Szorek: Wie ist Hölszky mit der Stadt Stuttgart verbunden?

 

Dreher: Sie lebt seit Jahrzehnten hier, studierte und lehrte am Haus und hat hier sowohl ihr familiäres als auch ein freundschaftlich-berufliches Umfeld, eng verbunden mit Instrumentalisten- und Sängerkollegen wie mit Künstlern und Persönlichkeiten aus anderen Sparten.

 

Luz: Sie ging dann aber für eine Professur nach Rostock und nach Salzburg. In den letzten Jahren wurden ihre großen Musiktheaterwerke in zahlreichen anderen Städten aufgeführt. Ich meine, wie haben etwas Nachholbedarf darin die aktuellen Kompostionen von Adriana Hölszky in Stuttgart zu hören.

 

Dreher: Deshalb wollen wir einen Hölszky-Tag zelebrieren, um ins Bewusstsein zu holen, welch bedeutende Komponistin von internationalem Rang in dieser Stadt lebt!

 

 

 

[erschienen in Spektrum #31]